Freitag, 20. Januar 2017

DER EINBRUCH VON STIMMEN IN DAS SCHRIFTGEDÄCHTNIS DES ARCHIVS

Prof. Dr. Wolfgang Ernst
zu Ausstellungsreihe 100 Jahren Erte Weltkrieg
Kuratiert von Dr. Lily Fürstenow-Khositashvili



[Extrakt aus dem Kapitel "Preußen in den Bibliotheken: Staatsbibliothek Berlin", in: Wolfgang Ernst, Im Namen von Geschichte. Sammeln - Speichern - (Er)Zählen. Infrastrukturelle Konfigurationen des deutschen Gedächtnisses, München (Fink) 2003]






Am 1. April 1920 bricht mit der Lautabteilung das Reale der Frequenzaufzeichnung in die symbolische Ordnung der Lettern ein: „Die toten Buchstaben und Büchertexte werden hier durch die Ergänzung der Lautplatte lebendig und verkörpern eine wirkliche Lautbücherei.“2 Damit wird der Schriftbegriff, durch den sich die Leipziger Deutsche Bücherei mitten im Weltkrieg frontal auszeichnet (ihr inschriftliches Schiller-Motto Körper und Stimme leiht die Schrift dem stummen Gedanken), grammophon - in einem Speichermedium, das (im Unterschied zu Druckbuchstaben) zwischen Signal und Geräusch nicht mehr trennt3. Weshalb die Lautabteilung der Berliner Staatsbibliothek konsequent auch „Geräusche natürlicher und künstlicher Art und andere“ aggregiert, etwa das „Rauschen der Blätter“. Was als literarische Poesie der Romantik begonnen hat4, kommt im Realen der transsymbolischen Aufzeichnungsmedien zu sich. Der Krieg, der diese neuen technischen Aufnahmemethoden (das glyphische System: „Eingravierung von Lautschwingungen mittels eines nach bestimmten Grundsätzen geschliffenen Saphirs oder Rubins auf eine Wachsplatte in Berliner Schrift“) durchsetzt, schreibt sich diesem neuen Gedächtnis selbst, als écriture automatique ein: „Gewehrfeuer (Theorie des Knalls), Fliegergeräusche“. Derselbe Krieg stellt nicht nur neue Aufzeichnungstechniken von Kultur, sondern auch deren Laborsituation zur Verfügung; zwischen dem 4. und 6. Oktober 1916 macht der Keltologe Rudolf Thurneysen im Lager Köln-Wahn im Auftrag der 1915 gegründeten Phonographischen Kommission Lautaufnahmen von Kriegsgefangenen nicht nur zu archäo- oder ethnologischen, sondern ebenso zu propagandistischen Zwecken.5 Basis der Lautabteilung in der Berliner Bibliothek sind die während des Weltkriegs auf Anregung Doegens in Kriegsgefangenenlagern unter der wissenschaftlichen Leitung Stumpfs erstellten Aufnahmen; so wird aus Lager Speicher.6 Die auf galvanoplastischem Wege in negative Kupferabzüge verwandelten Wachsplatten generieren eine neue, physikalisch induzierte Form von Denkmal: „Die Stimmen aller führenden Persönlichkeiten der Welt werden hier gleichsam in einem Stimmenmuseum festgehalten“ <ebd.>. Weltkrieg II läßt diese Transformation von schrift- in physikalisch basierte Monumente des deutschen Gedächtnisses eskalieren. Die Reorganisation der deutschen Wirtschaft im Zuge des Zweiten Weltkriegs bewirkt das produktionsbedingte Zusammenkommen von Menschen mit verschiedenen Dialekten aus diversen deutschen Reichsteilen in Mitteldeutschland; dort kommt es auf Kinderebene zu einer "Mischsprache", deren Zusammenwachsen wissenschaftlich erschlossen werden soll, in diskreten Schritten. Das Archiv als Bedingung dessen, was überhaupt erfaßbar und damit buchstäblich sagbar ist, ist hier ein technisches Dispositiv, um „feinste, sehr allmähliche Vorgänge zu beobachten und festzuhalten - Sprachgeschwindigkeit, Pausen, Sprachmelodie. Erst die Erfindung der Wachsplatte hat überhaupt die Möglichkeit der wissenschaftlichen Arbeit auf diesem Gebiet gegeben.“7 Der Nervenarzt Dr. Eberhard Zwirner suchte parallel dazu geistige Erkrankungen von Patienten in deren sprachlicher Artikulation nachzuvollziehen, wie sie "nur von dieser Grundlage aus festgestellt werden konnten", und gründet 1935 am Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch ein Deutsches Spracharchiv mit Schallplatten und anderen "akustischen Dokumenten". Daraus erwächst in Braunschweig das selbstständige Kaiser-Wilhelm-Institut für Phonometrie, Deutsches Spracharchiv. Die Erschließung der Salzgitter-Erze durch die Reichswerke Hermann Göring bringen deutschstämmige Arbeitskräfte zusammen; hier hofft man nun "aus der gegenseitigen Durchdringung und Abschleifung der einzelnen Mundarten, das Entstehen einer `neuen Umgangssprache´, sozusagen also einer neuen `Mundart´, beobachten zu können". Hier entstehen nun Archive des Lebens, denn diese Arbeit "stellt sich in einen gewissen Gegensatz zu den bisher in der Sprachwissenschaft üblichen Methoden" der statistischen Mittelwerte:

Nicht mehr die sprachliche Vergangenheit und ihre Zeugnisse sind ihr Betätigungsfeld, sondern die lebende Sprache des Alltags. `Die Sprache, der die Historiker bisher nachgelaufen sind wie der Junge dem Schmetterling, entwickelt sich jetzt vor unserem Auge und wie durch ein Vergrößerungsglas gesehen´, heißt es in einer Veröffentlichung von Dr. Dietrich Gerhard <...>. <...> Die vor mehr als vier Jahrzehnten in dem <...> Buch von Theodor Siebs festgelegte Hochform der deutschen Sprache wird in der Wirklichkeit von niemand gesprochen, ein durch die verschiedene Dialekte und durch `Nachlässigkeiten´ bestimmtes Mittelding nimmt ihren Platz ein. Zudem hat Siebs seinerzeit zwar die Art und Erzeugungsstelle der einzelnen Laute (Zunge, Gaumen, Kehle) festgelegt, nicht aber eine Normung von Tonhöhe, Tonfall, Sprachgeschwindigkeit, Klangfarbe, der Pausen und der Sprachmelodie versucht. <...> Neue Verfahren der Lautmessung, der `Phonometrie´, Statistik und graphischen Darstellung werden dabei Pate stehen, die Schallplatte wird das unentbehrliche Handwerkzeug sein. Man wird sich <...> in aller Heimlichkeit mit einem Aufnahmeapparat in das Büro einer Behörde setzen und dann nach einem gewissen Zeitraum <...> versuchen, den Lautstand und die Sprache derselben Menschen erneut aufs Korn zu nehmen. Bei alledem wird es darauf ankommen, Maßmethoden zu entwickeln, die erlauben, den Stand der Sprache eines bestimmten Menschen wie überhaupt die Melodie der gesprochenen gesunden deutschen Sprache in Zahlen auszudrücken und vergleichbar zu machen. Schließlich schwebt dem Institut als höchstes Ziel vor, den augenblicklichen Zustand der deutschen Sprache mit all ihren Mundarten in einem umfassenden Werk zu überliefern, so wie es vor einigen Jahren <...> schon einmal die Deutsche Beamtenschaft in ihrem `Lautdenkmal deutscher Mundarten zur Zeit Adolf Hitlers´ versucht hat.“ <ebd.>

Denn die Monumente des 20. Jahrhunderts nehmen Formen der mathematischen Immaterialität an; das Gedächtnismedium ihrer Beschreibung ist nicht mehr der sprachliche Text, sondern das Diagramm: "Bei dem deutschen Spracharchiv handelt es sich um ein einzigartiges Forschungsinstitut <...>, das zur Aufgabe hat, durch phonometrische Schallplattenaufnahmen das gesamte Erscheinungsbild der deutschen Sprache zu registrieren und zu beschreiben."8 Hier wird das Speichermedium vom Gedächtnis- zum Meßinstrument. Wo neben eine phonetisch-linguistische Abteilung eine mathematisch-statistische Abteilung sowie eine physikalisch-technische Abteilung treten soll, sind nicht mehr Germanisten oder Philologen, sondern Mitarbeiter mit der Fähigkeit zu "umfangreichen Mess-, Zähl- und Rechenarbeiten" verlangt9:

Erforderlich ist jedoch die Anstellung eines Elektrotechnikers zur Überwachung der Apparatur, zur technischen Durchführung der Schallaufnahmen und zur Hilfeleistung bei den Überschneidungen der Magnetophon-Aufnahmen auf Wachs und bei der Auswertung der Schallplatten; ferner ein Photograph zur Durchführung anthropologischer Photographien sowie von Tonfilmen zur Erforschung der gestikulatorischen Sprechbewegungen. <...> Ein in dieser Weise aufgebautes Institut würde es möglich machen, die am Buch und Buchstaben hängende Sprach- und Lautwissenschaft unter Beibehaltung der vergleichend-sprachwissenschaftlichen Aufgaben, unter Heranziehung naturwissenschaftlicher Voraussetzungen und Methoden zum lebendigen Sprechen und zu der sprechenden Person in ihrem natürlichen Lebenskreis hinzuführen.“ <ebd.>

Damit wird Leben in seiner Umwelt selbst archivierbar. Dahinter aber verbirgt sich eine Kriegswissenschaft; als genannter Dr. Zwirner sich als Regimentsarzt sich um Versetzung an das Luftwaffenlazarett in Braunschweig bemüht, dann mit der Begründung, seine früheren Versuche über psychische und Sprachstörungen fortzusetzen, "die bei Sauerstoffmangel in grossen Flughöhen oder bei körperlichen Erschöpfungszuständen auftreten <...> und gleichzeitig die Auswertung dieser Untersuchungen für das Deutsche Spracharchiv in Angriff" zu nehmen.10

1 Ferdinand Trendelenburg, Klänge und Geräusche. Methoden und Ergebnisse der Klangforschung, Schallwahrnehmung, grundlegende Fragen der Klangübertragung, Berlin (Julius Springer) 1935, 51
2 Wilhelm Doegen, Die Lautabteilung, in: Fünfzehn Jahre Königliche und Staatsbibliothek 1921: 253-258 (253)
3 „In Graphie und/oder Phonie des Titelworts `Sprache´ steckt die Lautverbindung `ach´“: Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme 1800 / 1900, München (Fink) 1985, 48. Dort auch die Abschnitte „Elemente von Sprache und Musik um 1800“ (48ff); zum Einbruch der technischen Aufzeichnungsmedien: ders., Grammophon, Film, Typewriter, Berlin (Brinkmann & Bose) 1987. Das Vorwort hebt an  mit einer Erinnerung an den Großen Generalstab der Weltkriege: „Medien bestimmen unsere Lage“ (3).
4 Siehe Paul de Man, Anthropomorphismus und Trope in der Lyrik, in: ders., Allegorien des Lesens, aus d. Amerikan. v. Werner Hamacher u. Peter Krumme, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1988, 179-204
5 Dazu Aimée Torre Brons, Propaganda mittels Urahnen. Die Keltologie im Dritten Reich, in: Berliner Zeitung Nr. 78 v. 2. April 1998, 15. Brons kommentiert: „Jede auf Nationalität bzw. Volkstum  begründete Wissenschaft scheint besonders anfällig für politische und ideologische Vereinnahmungen zu sein.“
6 Doegen 1921: 255f. Siehe auch W. E., Hornbostels Klangarchiv: Gedächtnis als Funktion von Dokumentationstechnik, in: Sebastian Klotz (Hg.), „Vom tönenden Wirbel menschlichen Tuns“: Erich M. von Hornbostel als Gestaltpsychologe, Archivar und Musikwissenschaftler, Berlin / Milow (Schibri) 1998, 116-131
7 Artikel <gezeichnet "G. W."> "Eine neue Umgangssprache?" in: Frankfurter Zeitung v. 16. Mai 1942
8 Auszugsweise Abschrift zum Dokument LG 1400 Bswg - 378 I. des Reichsministers der Finanzen, Berlin, 21. Juni 1940, an die Generalverwaltung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in Berlin (Schloß), in: Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft, I. Abt., Rep. 0001 A, Nr. 2938
9 Schreiben des Deutschen Spracharchivs (Staatliches Institut für Lautforschung) Braunschweig vom 16. Juni 1940 an den Braunschweigischen Minister für Volksbildung, zum Vorschlag der Umwandlung des Archivs ins ein Institut der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft


10 Der Braunschweigische Minister für Volksbildung am 12. März 1942 (Aktenzeichen V I 407/42) an die Generalverwaltung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in Berlin, ebd.


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